Vaudeville-Blues

Vaudeville-Blues
Vaudeville-Blues
 
[amerikanisch, 'vɔːdəvɪlbluːz], auch klassischer Blues, urbaner Bluestyp, der sich etwa um die Jahrhundertwende auf den Varieté-Bühnen der Vaudeville-Theater (Vaudeville) in den amerikanischen Großstädten herausbildete. Die volksmusikalische Tradition des Blues (Countryblues) wurde hier zu einer komponierten Form der Bühnenunterhaltung, die auf die Praxis der Theatersongs zurückging. Darin lag der Beginn für eine eigenständige Entwicklung des Blues unter den sozialen Bedingungen der von der Industrieproduktion in den Großstädten geprägten Lebensweise (City-Blues). Hier aber beginnt auch die kommerzielle Verwertung dieser Musik, setzt ihre Verbreitung durch die Massenmedien auf einem spezialisierten Markt für schwarze Käufer ein (Racemusic), was die Festlegung auf ein standardisiertes Formmodell, die Bluesformel, zur Folge hatte. Der mit der Massenproduktion des Blues zunächst als Notendruck, später auf Schallplatte, ständig steigende quantitative Bedarf zog professionelle Texter und Komponisten an, die zu den ursprünglichen volksmusikalischen Traditionen oft nicht den geringsten Kontakt hatten und sich stattdessen an formalen Momenten orientierten, die sie für typisch und charakteristisch hielten. So wurde die dreiteilige zwölftaktige Bluesform schließlich zu einem verbindlichen Muster. Als erster gedruckter Blues dieser Art gilt der 1912 veröffentlichte »Memphis Blues« von William Christopher Handy (1873-1958). Zunächst waren es allerdings hauptsächlich Weiße, die die Verlage mit Blueskompositionen belieferten, vor allem Irving Berlin (1888-1989) und Walter Donaldson (1893-1947). Später setzten sich mit Perry Bradford (1893-1970), James P. Johnson (1891-1955), Noble Sissle (1889-1976) und Clarence Williams (1893-1965) auch farbige Musiker als Autoren durch.
 
Die musikalischen Veränderungen gegenüber dem ländlichen Countryblues hatten eine wesentliche Ursache aber auch in den Bedingungen der Bühnendarbietung. So verlagerte sich das Schwergewicht jetzt auf die Interpretation, denn dieser Blues wurde für professionelle Bühnensänger geschrieben, in der Hauptsache Frauen. Damit die Stimme in den Theatersälen wirklich trug, denn technische Hilfsmittel kannte man ja noch nicht, ist die melodische Gestaltung hier vor allem auf Tragfähigkeit der Stimme, d. h. auf große Melodiebögen, angelegt worden. In der Begleitung begannen sich entsprechend Klavier bzw. kleine Bands aus dem typischen Jazzinstrumentarium dieser Zeit (Klavier, Posaune, Trompete, Klarinette) durchzusetzen. Ein charakteristisches Beispiel für diesen Bluestyp ist etwa W.C. Handys »Empty Bed Blues« (1931).
 
Eingang gefunden in die zahlreichen Vaudeville-Theater hatte der Blues zunächst durch die Minstrel-Shows. Gertrude »Ma« Rainey (1886-1939), Sängerin bei den Rabbit Foot Minstrels aus Port Gibson, Mississippi, soll schon 1902 einen Blues in ihr Programm aufgenommen haben. Danach spezialisierte sie sich auf ein solches Repertoire und wurde so zur ersten Bühneninterpretin dieser Musik. Eine große Rolle für die Verbreitung und Popularisierung des Blues auf den Bühnen der Vaudeville-Theater spielte dann die 1909 gegründete Theatre Owners and Bookers Association (T.O.B.A.), ein Tournee-Theaterunternehmen für das schwarze Publikum im Süden, das fast alle späteren Sängerinnen des Vaudeville-Blues durchlaufen haben. 1920 erschien schließlich auch die erste Schallplattenproduktion dieser Musik, der »Crazy Blues« von Perry Bradford mit Mamie Smith (1883-1946) und ihren Johnny Dunn's Original Jazz Hounds. Mit dem Erfolg dieser Aufnahme — sie wurde schon im ersten Monat nach ihrem Erscheinen mehr als 75000-mal verkauft — etablierte sich etwa ab 1922 die Schallplattenproduktion afroamerikanischer Musik eigens für eine schwarze Käuferschicht (Racerecords). Zu den herausragenden Interpretinnen dieses Bluestyps, die ihm im Nachhinein auch das Attribut »klassisch« eingebracht haben, gehörten dann neben Gertrude »Ma« Rainey und Mamie Smith vor allem Sara Martin (1884-1955), Ida Cox (1889-1968), Clara Smith (1894-1935), Lucille Bogan (1897-1948), Chippie Hill (1905-1950) und »The Empress of the Blues« (die Kaiserin des Blues) Bessie Smith (1894-1937). Sie vermochten mit ihren Interpretationen trotz der einsetzenden Tendenz zur Kommerzialisierung und standardisierten Massenproduktion dem Blues die individuelle Authentizität des subjektiven Ausdrucks sozialer Erfahrungen zu erhalten.
 
Ein recht abruptes Ende fand diese Entwicklung — von vereinzelten Ausläufern in den Dreißigerjahren abgesehen — mit dem Zusammenbruch der amerikanischen Tonträgerindustrie während der Weltwirtschaftskrise 1929 bis 1933. Die meisten der vorwiegend kleineren Firmen, die die Produktion des Vaudeville-Blues in den Zwanzigerjahren getragen hatten, mussten Konkurs anmelden. Danach ging unter dem Einfluss der Marktpolitik der großen Schallplattenfirmen dieser Bluestyp in eine Form der kommerziellen Unterhaltungsmusik über.
 
Siehe auch: Blues.

Universal-Lexikon. 2012.

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